
Ihr Weg zur optimalen Product Vision
Stellen Sie sich vor, die Entwicklung Ihres Produkts läuft perfekt in Scope, Time und Budget, aber der Erfolg bleibt unter den Erwartungen. In vielen Fällen wird es daran liegen, dass die Product Vision nicht existent, fehlerhaft, veraltet oder unverstanden ist.
Dieser Beitrag zeigt Ihnen einen Weg, wie Sie mit der Product Vision die richtigen lang-, mittel- und kurzfristigen Ziele herleiten, wie sie aufeinander aufbauen und dauerhaft aktuell gehalten werden. Unterstützt wird dies durch Beispiele aus der imaginären Stromvolt GmbH.
Es liegt in unserer Natur, dass wir uns mit unseren alltäglichen Aufgaben allzu gern nur an den operativen Zielen orientieren. Zu selten wird hinterfragt, welche mittel- und langfristigen Ziele zu erreichen sind und wie die operativen Aufgaben und Ziele mit ihnen verknüpft sind. Für strukturiertes, zielorientiertes Denken und eine einheitliche Kommunikation hat es sich daher bewährt, den Horizont in lang- mittel- und kurzfristige Ziele zu untergliedern. In der Produktentwicklung mit Ervolution werden hierfür die im Titelbild erwähnten Stufen verwendet und in seiner Gesamtheit als Product Vision bezeichnet:
Bevor auf die einzelnen Stufen genauer eingegangen wird sei an dieser Stelle noch auf ein paar Grundprinzipien im Umgang mit der Pyramide hingewiesen:
Grundprinzipien
Referentielle Integrität
Kurzfristige Ziele können mittel- oder langfristigen Zielen scheinbar widersprüchlich gegenüberstehen. Viele Softwareentwickler kennen dies nur allzu gut aus dem Zielkonflikt zwischen Testdurchführung, Testautomatisierung und Testabdeckung. Um eine gute Balance zwischen lang-, mittel- und kurzfristigen Zielen herzustellen, sollten die Beziehungen zwischen den einzelnen Zielen mindestens inhaltlich nachvollziehbar, idealerweise strukturell darstellbar sein. Mit anderen Worten: Die referentielle Integrität der Pyramide muss sichergestellt werden. Es sollte also keine Requirements geben, die nicht auf die Vision einzahlen. Sind sie dennoch nötig, muss über die Vision erneut nachgedacht werden.
Pull vs. Push
Sicherlich können Produkte entwickelt werden, in dem man alle operativen Tätigkeiten plant und einem Team vorgibt (Push). Diese Projekt-Management-Methodik aus dem letzten Jahrhundert ist aber nicht mehr zeitgemäß. Wesentlich effektiver und nachhaltiger geht die Entwicklung eines Produkts vonstatten, wenn alle Projektbeteiligten ihre Aufgaben selbstständig organisieren (pull). Eine wesentliche (wenn auch nicht die einzige) Voraussetzung hierfür ist die Kenntnis der Product Vision. Sie gehört daher an die Wände der Projekträume und auf die Startseite des Wikis, mit Sicherheit aber nicht in den Panzerschrank.
Fokussierung
Aus dem Physikunterricht unserer Schulzeit kennen wir das Kräfteparallelogramm. Darin addieren sich einzelne Kräfte nur dann zu 100%, wenn ihr Richtungsvektor der gleiche ist. Die resultierende Kraft kann aber auch auf 0 oder gar auf negative Werte reduziert werden, wenn die einzelnen Kräfte in unterschiedliche Richtungen wirken. Gleiches gilt für die Umsetzung der Product Vision. Wenn die Projektbeteiligten die Produkt Vision und ihre Priorisierung verstanden haben, können sie den gleichen Richtungsvektor einschlagen. Solche Teams erreichen leicht die doppelte Leistung gegenüber dem Durchschnitt. Im Idealfall wird die Product Vision gemeinsam mit allen Projektbeteiligten weiterentwickelt.

Vision
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ sagte Helmut Schmidt in einem Interview von 1980. Bei allem Respekt vor dem ehemaligen Bundeskanzler der BRD, hier lag er falsch. Die Vision ist unsere Vorstellung einer möglichen Zukunft. Sie bestimmt die Richtung, in die wir gehen. Für die Entwicklung eines erfolgreichen Produktes ist es daher essentiell, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Welt in fünf bis zehn Jahren aussieht. Der Zeithorizont ist dabei abhängig von der Lebensdauer des Produkts und den zu erwartenden Veränderungen in dessen Umfeld. In der aktuellen Phase der Digitalisierung werden sich die meisten Produkt-Visionen auf einen eher kurzen Horizont fokussieren müssen.
Wie kommt man nun zu einer geeigneten Beschreibung der Vision? Hier hat jede Organisation ihr Geheimrezept. Zwei Methoden sollen an dieser Stelle aber genannt werden:
1. KPI-Methode
Bei der KPI-Methode werden messbare Schlüssel-Indikatoren ermittelt, die das Produkt betreffen. Diese werden aus einem hinreichend langen Zeitraum der Vergangenheit ermittelt. Daraus wird eine Funktion abgeleitet und für die Zukunft fortgeschrieben. Es sollte darauf geachtet werden, dass Funktionen dieser Art in der Regel nicht linear, sondern exponentieller Natur sind. Der Zeitraum muss daher ausreichend groß sein, damit der exponentielle Charakter erkennbar wird. Spätestens an der Stelle eines unrealistischen Anstiegs ist ein Paradigmenwechsel zu erwarten. Hier wird sich der Indikator anders entwickeln oder durch einen anderen ausgetauscht werden. Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung der Prozessorperformance auf Basis der KPI Taktfrequenz und Anzahl der Prozessorkerne auf einem DIE. Zunächst war die Taktfrequenz über viele Jahre der maßgebliche KPI der Prozessorleistung. Mitte der 2000er gesellte sich die Anzahl der Rechenkerne als marktrelevanter KPI hinzu, die Taktfrequenz verlor an Aussagekraft.
2. Was-Wäre-Wenn-Methode
Diese Methode hilft besonders dann, wenn KPIs als konstant angesehen werden, dies aber nicht sind. Besonders langjährige Insider einer Branche und Experten auf den betreffenden Gebieten sind hier gefährdet. Um dieser Denkfalle zu entrinnen, sollte die Was-Wäre-Wenn-Frage gestellt werden. So führte die Infragestellung eines vermeintlichen Fakts, dass in einer Speicherzelle nur ein Bit gespeichert werden kann dazu, dass wir heute mit 3-4 Bit pro Zelle den Inhalt mehrerer Festplatten auf einer Micro-SD unterbringen können. Aber auch gesellschaftliche Konstanten können und sollten in Frage gestellt werden, wenn sie einen Bezug zum Produkt haben: „Was wäre, wenn es von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert wird, Wälder und Gemeinden für die Gewinnung von Kohle zu opfern?“
Mit dieser Methode kann in einer fehlertoleranten Projektkultur gern auch mal über das Ziel hinausgeschossen werden. Das regt die Kreativität an und hilft, Denkblockaden zu lösen: „Wie müsste eine Welt aussehen, in der PI nicht 3,14159265… sondern 3 wäre?“ Hat man ein klares Bild von der Zukunft in Bezug auf das zu entwickelnde Produkt, gilt es, diese so zu formulieren und idealerweise grafisch zu verstärken, dass sie in 15-20 Sekunden einem potentiellen Nutzer erklärt werden kann.
Die imaginäre Stromvolt GmbH hat für ihre Vision als KPI die Preise für den Bezug, die Erzeugung und die Speicherung elektrischer Energie analysiert und daraus abgeleitet, dass bereits in 3-4 Jahren der Break-Even für regionale Elektroenergieerzeugung und Speicherung erreicht werden kann.

Im Ergebnis kommt sie zu folgender Vision:
„Elektrische Energie wird künftig in der Nähe der Verbraucher erzeugt und gespeichert. Erzeuger und Verbraucher stimmen sich autonom und dezentral ab.“
Mission
Die Mission beschreibt die Position, die eine Organisation in dieser Vision einnimmt oder welchen Beitrag sie dazu leistet, diese Vision real werden zu lassen. Aus ihr sollte der Mehrwert für den Kunden erkennbar sein. Auch die Mission sollte in 15-20 Sekunden jedem potentiellen Kunden erklärt werden können. Für die Stromvolt GmbH lautet sie:
„Mit unserer eGRID-SolutionTM werden unsere Kunden unabhängig vom Energieversorger, optimieren ihre Erträge und sorgen für ein ausgeglichenes und stabiles Stromnetz.“
Gemeinsam mit der Vision und einer auf den Punkt gebrachten Mission kann man sich bereits an den ersten Elevator Pitch wagen. Verläuft dieser positiv, findet man sich schnell in der Chefetage wieder und wird mit Fragen zur Realisierung konfrontiert. Hierfür liefert die nächste Ebene die richtigen Antworten.
Strategie
Die Strategie beschreibt die Mittel und Wege, mit der eine Mission erfüllt werden kann. Der Aufwand zur Herleitung einer wirksamen Strategie sollte nicht unterschätzt werden. Sie erfordert viel Aufmerksamkeit für interne und externe Faktoren und ihre Veränderungen. Ein guter Ansatz und Einstieg in die Strategie ist die Durchführung einer SWOT*-Analyse. Sie ist nicht sehr beliebt und wird oft bekrittelt. Es hat aber noch keinem geschadet, die Chancen und Risiken seiner Umwelt wahrzunehmen und sich seiner eigenen Stärken und Schwächen bewusst zu werden. Vielleicht rührt die Kritik aus dem Umstand, dass der Begriff etwas unglücklich gewählt wurde, denn die SWOT-Analyse beinhaltet neben der Analyse auch die Ableitung von konkreten Maßnahmen. Dieser Schritt wird gern einmal vergessen. Eine vollständige SWOT-Analyse kann wie folgt durchgeführt werden:
1. Schritt der SWOT-Analyse
Im ersten Schritt werden die inneren Faktoren (Stärken, Schwächen) sowie externe Faktoren (Chancen, Risiken) bezogen auf Vision und Mission ermittelt. Dabei werden die Punkte so weit wie möglich mit Fakten unterfüttert. Idealerweise lassen sich KPIs ermitteln, die anschließend zur Messung des Erfolgs der gewählten Strategie herangezogen werden. Fällt es schwer, die richtigen Faktoren zu finden, hilft das Businessmodell des Produkts. Existiert es noch gar nicht, ist bereits die erste große Schwäche gefunden. Ist es vorhanden, können folgende Fragestellungen dabei unterstützen, Stärken, Schwächen Risiken und Chancen zu ermitteln:
- Welche Mehrwerte verspreche ich dem Kunden (Value Proposition)?
- Welche Kunden spreche ich an?
- Welche Form der Kundenbeziehung strebe ich an?
- Über welche Kanäle spreche ich den Kunden an?
- Wie sieht der Business Case aus?
- In welcher Höhe werden wann welche Kosten/Ressourcen anfallen?
- In welcher Höhe werden wann welche Einnahmen/Werte erzielt?
- Mit welchen Partnern arbeite ich zusammen?
- Was werden meine Mitbewerber anbieten?
Für die Stromvolt GmbH sieht der erste Teil einer stark verkürzten SWOT-Analyse wie folgt aus:

2. Schritt der SWOT-Analyse
Im zweiten Schritt der SWOT-Analyse werden die internen und externen Faktoren als Kreuzprodukt gegenübergestellt, um für alle relevanten Kombinationen Maßnahmen zu definieren. Daraus ergeben sich folgende konkrete Fragestellungen:
- Was ist zu tun, um mit der Stärke Sn die Chance Om zu ergreifen?
- Was ist zu tun, um mit der Stärke Sn dem Risiko Rm zu begegnen?
- Was ist zu tun, damit die Schwäche Wn nicht die Chance Om zerstört?
- Was ist zu tun, damit die Schwäche Wn nicht durch das Risiko Rm verstärkt wird?
Die Erkenntnisse aus dem 2. Schritt der SWOT-Analyse können unmittelbaren Einfluss auf die Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken haben. Daher müssen die Schritte 1 und 2 in der Regel mehrfach wiederholt werden, bis sich ein stabiles Gleichgewicht eingestellt hat, in der die strategischen Maßnahmen ein erfolgreiches Produkt versprechen. Für die Stromvolt GmbH wird nachfolgend eine Teilmenge der strategischen Maßnahmen abgebildet:

Roadmap
Aus der Strategie lassen sich Ziele ableiten. Nicht alle Ziele sind jedoch sofort oder gleichzeitig zu erreichen. Vielmehr bewegt man sich auf einer Missions-Straße Richtung Vision. Auf ihr ist ein Ziel nach dem anderen positioniert. Aus dem englischen kennen wir dafür den Begriff Roadmap.
Für die Herleitung einer solchen Roadmap werden die strategischen Maßnahmen zunächst nachfolgenden Kriterien priorisiert:
- Wirksamkeit für die Erfüllung der Mission
- Abhängigkeit von anderen strategischen Maßnahmen
- Finanzielle Aspekte (Kosten, Nutzen, Liquidität etc.)
- Erfolgswahrscheinlichkeit
In einem zweiten Schritt werden die Maßnahmen zu Teilprodukten gruppiert und anschließend auf der Zeitachse abgetragen. Selbstverständlich werden hier die wichtigsten Maßnahmen mit den geringsten Wartekosten so früh wie möglich positioniert. Durch Versionierung von Teilprodukten lässt sich die Zeit bis zu einem Marktstart weiter verkürzen.
Die so entstandenen Teilprodukte werden auf der Zeitachse abgetragen und mit wesentlichen Meilensteinen versehen. Diese Meilensteine sind zunächst nur semantisch und haben noch kein festes Datum, maximal einen groben Zeitrahmen. Die schrittweise Präzisierung der Meilenstein-Termine erfolgt später entlang der agilen Entwicklung anhand der Release Burndown Charts. Für die Stromvolt GmbH sieht die Roadmap wie folgt aus:

Requirements
Die unterste Ebene der Product Vision beschreibt konkret und messbar das Minimum an Anforderungen für jedes Element der Roadmap. In der agilen Welt wird es als Minimal Viable Product – kurz MVP bezeichnet. Die Requirements sind somit die Quelle für das Product Backlog. Daher ist es für den Product Owner hilfreich, wenn die Definition der Anforderungen bereits analog zu Userstories und Epics formuliert werden. Sie sollten also folgende Informationen beinhalten:
- Wer hat eine Anforderung?
- Was konkret erwartet er?
- Welchem Zweck verfolgt er damit?
- Gibt es konkrete Randbedingungen oder Akzeptanzkriterien?
Eine exemplarische Anforderung an die Grid API V1.0 der Stromvolt GmbH lautet wie folgt:
Als Stromvolt-Partner für operative Energiespeicherung möchte ich Zugang zu den anonymisierten, historischen Verbrauchsdaten bekommen, damit ich meine Anlage optimal auslegen kann. Dazu gehören:
- Menge der erzeugten elektrischen Energie
- Menge der konsumierten Energie
- Flexible Wahl der Zeitintervalle (Minute bis Quartal)
- Regionale Verteilung
Agile Product Vision
Wurde eine Product Vision mit den vorangegangenen Schritten erstellt, ist die Arbeit nicht beendet. Genau genommen war die initiale Erstellung einer Produkt Vision erst der Anfang. Die Welt verändert sich täglich und mit ihr die Wünsche der Kunden. Damit ändern sich die Anforderungen an das Produkt. Die Änderungen können sich wiederum auf die Roadmap, Strategie, Mission und Vision auswirken. Je höher die Ebene desto schleichender und unauffälliger kommt der Anpassungsbedarf daher. So kann es passieren, dass die Vision von der Realität überholt wird. Firmen wie Kodak, Nokia u.v.m. zeigen, dass eine fehlende Anpassung der Product Vision existenzbedrohend sein kann.
Aus diesem Grund sollte die kontinuierliche Weiterentwicklung der Product Vision in den Entwicklungsprozess integriert werden. In der „Agilen Produktentwicklung mit Ervolution“ ist die Product Vision ein weiteres Artefakt, welches durch die iterativen Aktivitäten „Adjustment“ und „Product Planning“ aktualisiert bzw. verarbeitet wird.

Im Adjustment wird die Product Vision überprüft und gegebenenfalls an veränderte Rahmenbedingungen angepasst. An dieser Stelle kommen die in der Vision und Strategie verwendeten KPIs zum Einsatz. Ihre Veränderung dient als eine Eingangsgröße für das Adjustment.
Im Product Planning werden die Änderungen an der Product Vision besprochen und die notwendigen Anpassungen am Product Backlog vorgenommen.
Wie geht es weiter?
Wenn Sie die Informationen in diesem Beitrag wertvoll finden, dann lassen Sie sich gern bei der Verbesserung Ihrer Product Vision unterstützen. Ebenso freue ich mich über einen Kommentar oder ihren direkten Kontakt zum Thema.